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Starke Zunahme der Grenzgänger in Genf

31. Mai 2024

Architecture, Building, Cityscape

Die Genferseeregion zeichnet sich durch einen der dynamischsten Arbeitsmärkte der Schweiz aus. Während die Zahl der Beschäftigen kräftig wächst, herrscht im Wohnungsmarkt seit Jahren akute Knappheit. Als Folge davon breitet sich der Genfer Metropolraum immer stärker auf das französische Umland aus. Die Anzahl Grenzgänger, die in Frankreich wohnen und nach Genf zur Arbeit pendeln, ist seit 2021 um weitere 33’000 Personen gestiegen. Vorangetrieben wurde diese Entwicklung vom «Léman Express», einer 2020 eröffneten grenzüberschreitenden S-Bahn, sowie von einer Liberalisierung der Homeoffice-Regeln im Jahr 2023. Auch in Zukunft dürfte ein Grossteil des Genfer Bevölkerungswachstums auf der französischen Seite der Grenze stattfinden.

Immer mehr Grenzgänger aus Frankreich

Die Zahl der Personen, die im Ausland wohnen und zur Arbeit in die Schweiz pendeln, stieg zwischen dem 1. Quartal 2021 und dem 1. Quartal 2024 um 58’000 (+17%) auf total 399’000. Besonders stark war der Zuwachs der Grenzgänger aus Frankreich, die in der Genferseeregion (bestehend aus den Kantonen Genf, Waadt und Wallis) arbeiten: Deren Zahl wuchs in den letzten 3 Jahren um 33'000 Personen (+26%). Damit haben 57% aller neu hinzugekommenen Grenzgänger ihren Arbeitsort in der Genferseeregion. 77% der neuen Grenzgänger, die in Frankreich wohnen, wählten die Genferseeregion als Arbeitsort, viele von ihnen den Kanton Genf (+22’000 bzw. +24%). Dies hat verschiedene Ursachen:

  • Boomender Arbeitsmarkt: Der Post-Covid-Boom im Genfer Arbeitsmarkt.
  • Wohnungsmangel: Die immer prekärere Wohnungsknappheit in Genf.
  • Léman Express: Seit 2020 erleichtert der neue Léman Express das grenzüberschreitende Pendeln. So hat sich die Reisezeit zwischen Annemasse und dem Genfer Hauptbahnhof Cornavin um rund 40% reduziert. Mittlerweile wird der Léman Express täglich von 70’000 Pendlern genutzt und erreicht damit einen Marktanteil von 43%. Schmid (2023) untersucht die Folgen, die der Léman Express auf die Bautätigkeit, die Immobilienpreise und die Zusammensetzung der Bevölkerung hat. Seine Analysen zeigen, dass der Léman Express in der Nähe von Haltestellen einen Bauboom ausgelöst und die Attraktivität des Grenzgängertums in der Region nochmals verstärkt hat.
  • Bautätigkeit: Im grenznahen Frankreich wurden rund um die nun besser erschlossenen Bahnhöfe viele neue Wohnungen erstellt.
  • Wohnkosten: Die durchschnittlichen Wohnkosten im grenznahen Frankreich sind nach wie vor etwa um die Hälfte tiefer als in Genf (Mediane Angebotsmieten: 190 vs. 384 CHF pro m2 und Jahr).
  • Allgemeine Preisunterschiede: Konsumgüter sind in Frankreich tendenziell billiger als in der Schweiz. Ausserdem hat sich der Schweizer Franken gegenüber dem Euro in den letzten 3 Jahren um knapp 10% aufgewertet. Beides ist vorteilhaft für die Kaufkraft der Grenzgänger.
  • Krankenversicherungsprämien: Bis 2023 profitierten Grenzgänger von deutlich günstigeren Krankenversicherungsprämien als in der Schweiz wohnhafte Personen (ab 2024 wird dieser Vorteil allerdings deutlich reduziert).
  • Löhne: Die Bruttolöhne sind im Kanton Genf mehr als doppelt so hoch wie im grenznahen Frankreich (80'000 vs. 30'000 CHF pro Jahr).
  • Neues Steuerabkommen: Grenzgänger aus Frankreich dürfen seit Januar 2023 bis zu 40 % ihrer Arbeitszeit im Homeoffice leisten, ohne dass dies einen Einfluss auf ihren Status als Grenzgänger oder damit verbundenen Einkommensbesteuerungsregelungen hat. Dies reduziert ihre Pendelkosten.
Reduktion der Reisezeit mit dem öffentlichen Verkehr nach Genève Cornavin seit der Inbetriebnahme des Léman Express (im Vergleich zur Vorsituation, Abbildung aus Schmid (2023))

Anteil der Grenzgänger am Genfer Arbeitsmarkt steigt

Zwischen dem 1. Quartal 2021 und dem 4. Quartal 2023 wuchs die Zahl der Beschäftigen in der Genferseeregion um 79'000 Personen (+8.1%, Schweiz: +7.1%). Damit entfällt 36% des Beschäftigungswachstums auf Grenzgänger. Der Anteil der Grenzgänger an den Beschäftigten ist in der Genferseeregion traditionell hoch; jüngst hat er jedoch nochmals deutlich zugelegt, und zwar von 13.2% im 1. Quartal 2021 auf 14.9% im 1. Quartal 2024.

Akute Wohnungsknappheit und hohe Wohnkosten in Genf

Während die Leerwohnungsziffer im Kanton Genf bereits seit Anfang des Jahrhunderts ständig deutlich unterhalb des optimalen Leerstands von 0.75% liegt (vgl. dazu den Blogbeitrag «Wie hoch muss der Leerstand sein, damit Mieten und Preise stabil sind?»), hat sich die Wohnungsknappheit in den letzten 2 Jahren nochmals verschärft, und der Anteil leer stehender Wohnungen fiel 2023 auf sehr tiefe 0.4%. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Angebotsziffer von Mietwohnungen, die zwischen 2021 und 2023 von 5.3% auf 4.2% sank. Im Kanton Genf herrscht also chronische Wohnungsknappheit. Als logische Konsequenz sind die Wohnkosten sehr hoch. Der Median der Angebotsmieten lag im Kanton Genf bei 384 CHF pro m2 und Jahr (Stand: 1. Quartal 2024).

Im grenznahen Frankreich hingegen bewegen sich die Angebotsmieten je nach Standort zwischen 190 und 260 CHF pro m2 und Jahr (Quelle: Seloger). Noch extremer ist die Situation bei den Angebotspreisen für Wohneigentum. Im Kanton Genf betragen diese derzeit rund 13'500 CHF pro m2, im grenznahen Frankreich je nach Standort zwischen 3’500 und 6’000 CHF pro m2 (Schmid (2023) und Seloger). Entsprechend attraktiv ist die Wohnsitznahme im grenznahen Frankreich für in Genf Beschäftigte. Im 4. Quartal 2021 waren 26% der Beschäftigten im Kanton Genf Grenzgänger, einige Gemeinden wiesen sogar Anteile von über 40% auf.

Preise für Wohneigentum (2010–2018, Median, in CHF pro m2 (Abbildung aus Schmid (2023))
Anteil der Grenzgänger in der Genferseeregion (4. Quartal 2021)

Grenznahes Frankreich als Ventil für das Genfer Wachstum

Von 2015 bis 2020 wuchs die Wohnbevölkerung in den an den Kantonen Genf angrenzenden französischen Arrondissements Saint-Julien-en-Genevois und Gex um 1.2% respektive 1.9% pro Jahr, während der Kanton Genf im gleichen Zeitraum nur um 0.9% pro Jahr wuchs. Diese drei Einheiten bilden zusammen die grenzübergreifende Region «Grand Genève». Von den insgesamt 42’000 Personen, um die «Grand Genève», in diesem Zeitraum wuchs, entfielen 49% auf den französischen Teil, obwohl dieser 2015 nur 37% der Einwohner beherbergte. Das grenznahe Frankreich dient also als Ventil für das Wachstum des Kantons Genf. Schmid (2023) zeigt, dass dieses Bevölkerungswachstum in erster Linie durch Zuzüge aus umliegenden französischen Regionen getrieben wurde und dass die Übersiedlung aus der Schweiz relativ gering ausfiel.

Erschwinglichkeit im grenznahen Frankreich nimmt ab

Die Präsenz der «reichen» Grenzgänger hat die Preise im grenznahen Frankreich im Vergleich zu anderen Gebieten in die Höhe getrieben. Die Immobilienpreise im Département Haute-Savoie liegen deutlich über dem französischen Durchschnitt und sind in den letzten Jahren nochmals überdurchschnittlich stark gewachsen. Das macht es für Einwohner, die nicht in der Schweiz arbeiten, schwieriger, sich angemessenen Wohnraum leisten zu können. Dies zeigt sich in der unterdurchschnittlichen Erschwinglichkeit von Wohnraum im Département Haute-Savoie (gemäss Immo-Monitoring France 2024).

Genf wächst auf französischem Gebiet weiter

Für die Periode von 2024 bis 2030 erwarten wir gemäss Bevölkerungsprognose von Wüest Partner für den Kanton Genf ein Bevölkerungswachstum von 1% pro Jahr. Die angrenzenden Arrondissements Saint-Julien-en-Genevois und Gex dürften diesen Wert auch in Zukunft deutlich übertreffen. So lagen 2021 61% der sich in «Grand Genève» im Bau befindenden Wohnungen auf der französischen Seite (DREAL Auvergne-Rhône-Alpes/ OCSTAT - Statistique du parc immobilier). Ausserdem hat sich mit dem Léman Express das Pendelgebiet ausgeweitet, sodass nun auch die Arrondissements Annecy und Thonon-les-Bains stärker nach Genf ausgerichtet sind.  Folglich dürfte auch in Zukunft ein Grossteil des Bevölkerungswachstums des Genfer Metropolraums auf der französischen Seite der Grenze stattfinden, während die Arbeitsplätze sich weiterhin mehrheitlich auf dem Schweizer Gebiet konzentrieren.

Das Bevölkerungsprognosemodell von Wüest Partner
Dieses Modell ermöglicht es, die Entwicklung der ständigen Wohnbevölkerung auf Gemeindeebene nach Alter, Geschlecht und Nationalität bis 2050 vorherzusagen. Es basiert auf der Methode der Kohortenkomponenten, wobei als Ausgangspunkt die letzte verfügbare Bevölkerungsbilanz des Bundesamts für Statistik (BFS) verwendet wird. Die zukünftigen Entwicklungen werden auf der Grundlage von Annahmen über die Migrations-, Geburten-, Sterbe- und Einbürgerungsraten in jeder Kohorte berechnet. So werden beispielsweise altersabhängige Fertilitäts- und Mortalitätsraten beigezogen, um die Zahl der Geburten und Todesfälle in der Bevölkerung zu prognostizieren. Die Zu- und Abwanderungsströme werden getrennt geschätzt, wobei die langfristigen Migrationswahrscheinlichkeit sowie der Rückgang der Erwerbsbevölkerung in den Nachbarländern, der das Migrationspotenzial aus diesen Ländern schwächt, berücksichtigt werden. Das Modell wird mit weiteren Daten (Attraktivität von Gemeinden gemäss Standort- und Marktrating, Mietpreisniveau, Kapazität der Gemeinden für die Aufnahme neuer Einwohnerinnen und Einwohner, Entwicklungsareale, Neubautätigkeit usw.) ergänzt, um die lokalen Bevölkerungsprojektionen zu verfeinern. Die beiden Hauptstärken dieses Modells sind erstens die feine Granularität der Daten, die Prognosen auf Gemeindeebene ermöglicht. Zweitens wird das Modell jährlich aktualisiert, um die neuesten Zahlen und Trends zu integrieren. So haben wir beispielsweise kürzlich die Annahmen zur Fertilität nach unten revidiert, um dem in den letzten beiden Jahren beobachteten Geburtenrückgang Rechnung zu tragen.

Die Bevölkerungsprognose von Wüest Partner  bietet eine aktuelle, kleinräumige und altersspezifische Bevölkerungsvorhersage. Diese kann beispielsweise als Grundlage für Schulraumplanungen oder zur Abschätzung der zukünftigen Nachfrage nach Kinder- und Altersbetreuung oder Gesundheitsdienstleistungen eingesetzt werden. 

Dieser Text basiert auf der im Jahr 2023 publizierten Dissertation von Marco Schmid, der auch Co-Autor dieses Blogbeitrags ist. Er wurde mit den neusten verfügbaren Daten angereichert.

Datenquellen

BFS: Grenzgängerstatistik (GGS), Beschäftigungsstatistik (BESTA), Statistik der Bevölkerung und Haushalte (STATPOP), Schweizerische Lohnstrukturerhebung (LSE), Leerwohnungszählung
INSEE: Recensement de la population, Salaires
DREAL Auvergne-Rhône-Alpes/ OCSTAT - Statistique du parc immobilier
Seloger, Wüest Partner

Literaturverzeichnis

Schmid, Marco (2023). The housing market effects of public transport integration: Evidence from Geneva's Léman Express. URPP Equality of Opportunity Discussion Paper Series 18, University of Zurich. https://doi.org/10.5167/uzh-252227

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